Archiv - Aktivities des Lionsclubs Dorsten-Hanse

Dorsten und die Stasi - Spion hinter der Kirchensäule

Stasi-Forscher Helmut Müller-Enbergs zu Gast im alten Rathaus (von Jo Gernoth - WAZ - 15.04.2011)


Nein, Dorsten war zu Zeiten der DDR keine Hochburg der Spionage. Ab 1985 gab es in Dorsten keinen aktiven DDR-Agenten. Dennoch berichtete der aus Dorsten stammende Dr. Helmut Müller Enbergs, der im Auftrag der Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR als Wissenschaftler tätig ist (die WAZ berichtete), erstaunliche Details aus dem Alltag der Ost-Agenten.
Dabei waren besonders zwei Dorstener Biografien in das Visier des aus Lembeck stammenden Wissenschaftlers geraten: die informellen Mitarbeiter „Pirol“ und „Erich Neu“ – Agenten aus der Provinz.

Müller-Enbergs fesselte sein Publikum mit Sachkenntnis, Wortwitz und bereitete so die Enttarnung der Dorstener Schlapphüte brillant vor. Geschickt lenkte der 50-jährige Wissenschaftler, der in Fachkreisen gleichermaßen wegen seiner Akribie geschätzt und gefürchtet wird, mit einer Art Sittengemälde über die im Volksmund „Horch und Guck“ genannte Stasi geschickt den Focus auf Dorsten.

Dabei enthüllte er Geheimnisse, die eigentlich keine sind. Fast wie in Spionagefilmen war es bei der Stasi tatsächlich so, dass zwischen Bett und Weltanschauung rekrutiert wurde, was dem selbst ernannten Arbeiter- und Bauernparadies hätte nützlich sein können. Müller Enbergs erntete ungläubiges Staunen, als er verriet, dass gerade die Annäherung beider Deutscher Staaten seit dem Jahre 1974 zu einer Verdopplung des Repressionsapparates der Stasi geführt hatte: „Man hatte halt Angst, von Entwicklungen überrascht zu werden, die nicht im Sinne des Sozialismus waren“.
Er amüsierte sein Publikum, wenn er von der „bio-chemischen Durchmischung“ von Führungsoffizieren und Chefsekretärinnen erzählte. Dabei räumte der Wissenschaftler mit einem weit verbreiteten Vorurteil auf: Nicht Spitzenpolitiker waren das Ziel der Anwerbung, sondern vielmehr deren dienstbare Geister. „Der Zusammenbruch von vier Deutschen Regimes hatte die Stasi eines gelehrt: Politiker gehen, Büros bleiben“, sagte Müller-Enbergs und belegte diese These eindrucksvoll mit Zahlen. So war nicht „IM Hansen“, besser bekannt als Günther Guillaume, der Top-Spion in den Reihen der SPD, sondern „IM Max“. Er war einer der Kanalarbeiter aus der zweiten Reihe der SPD und lieferte über 1600 wichtige Dossiers.

Nicht nur inhaltlich, auch geografisch arbeitete sich Dr. Helmut Müller Enbergs langsam, aber stetig, mit seinen Ausführungen in Richtung Dorsten vor. In Marl war mit Dr. Wolfgang Müller ein Agent tätig, der ein ganz wesentliches Motiv der DDR-Spionage nahezu klassisch bediente: Müller lieferte chemische Formeln, die sonst erhebliche Entwicklungskosten in der DDR verschlungen hätten, für kleines Geld. Mal waren es 700 DM, mal ein Weihnachtsgeld von 2400 DM. Nicht unbedingt Summen, bei der ein CWH-Manager weich werden sollte. Weltanschauung war ein Motiv für DDR-Spione.

Rund zwei Drittel aller Schlapphüte wurden aus diesem Beweggrund subversiv. So auch der beliebte Deutener Landpfarrer Josef Frindt, dessen Vita als „IM Erich Neu“ Beweis dafür ist, wie gefährlich ausgeklügelt die Stasi-Strategie wirkte. Münster war ein Handlungsschwerpunkt der Stasi in Sachen Katholische Kirche und Frindt spielte dabei eine Hauptrolle. Sein Studienkollege und Weggefährte war Werner Thissen, einst Kaplan in St. Josef (Hervest).

Der heutige Erzbischof von Hamburg war mit einem gewissen Josef Ratzinger (jetzt Papst) bekannt und der wiederum wusste, wie ein gewisser Karol Wojtyla (der letzte Papst) tickte: Frindt verfolgte nach Stasiunterlagen materielle Interessen, war mit allen Instrumentarien eines Top-Agenten ausgestattet. Eine im Nöttenkamp wohnende Gehilfin unterstützte ihn bei der Verfassung seiner über 60 Berichte, die von der Stasi als „Bedeutungsvoll“ eingestuft wurden.

„IM Pirol“, wuchs in der bäuerlichen Beschaulichkeit der Deutener Jugendherberge auf und war weltanschaulich Kommunist. Später war er Chef vom Dienst bei Reuters und lieferte Informationen aus erster Hand. Aus weltanschaulichen Gründen, wie der Mann erklärt, der noch heute den Idealen der DDR nachtrauert.

Es gäbe noch Hunderte Randnotizen aus Müller-Enbergs’ Vortrag zu erwähnen. Was der Mann zu berichten weiß, ist gleichermaßen faszinierend wie schockierend. Allerdings auch banal: Wer hätte gedacht, dass ein so gewiefter Geheimdienst wie die Stasi beim Einschleusen von Agenten mit einer Westidentität vergaß, neben westlicher Kleidung auch die DDR-Standardbrille gegen ein Westmodell zu tauschen.

So endeten nicht wenige Betrachtungen der Welt durch die Brille des Sozialismus in Bundesdeutschen Haftanstalten.

Dorsten und die Stasi - Hürland ausgespäht
Mit einem Lachen verkündetet Dr. Helmut Müller Enbergs, dass alle im Saal anwesenden Ex-Stasi-Spione mit dem Anfangsbuchstaben L, La und Le aufatmen könnten: Ihre Akten sind verschwunden. Sie sind aus der Sache raus. In der Wahl ihrer Decknamen waren die Agenten frei. Aber, und das ist kein Witz: Der Name Judas war strengstens untersagt. Immerhin: Rund 20 Dorstener waren auf dem sogenannten „Radar“ der Stasi und etliche in Dorsten geborene Agenten waren aktiv. Dabei konnte der Wissenschaftler sogar benennen, in welchen Stadtteilen die „Warmläufer“ saßen. Die Eisengießerei und Agnes Hürland waren von Interesse. Der Rest eher nicht. Bemerkenswert ist sicher auch die Rolle der Deutschen Justiz, die kurz beleuchtet wurde: Vor der Wende wurden für Landesverrat empfindliche Haftstrafen von zehn Jahren und mehr ausgesprochen. Nach der Wende sind auffällig viele Geldstrafen und Bewährungsstrafen für die gleichen Delikte verhängt worden.

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